Mit dem Charterboot kommen wir in Lissabon an. Jetzt erst einmal ausschlafen und dann in der Stadt Kaffee trinken. Am nächsten Tag durchwandern wir die City und natürlich auch die mittelalterliche Altstadt auf dem östlichen Hügel, die Alfama. Merkwürdig, wie kann es sein, dass die City in der Talsohle rechtwinklig, quadratisch angelegt ist, während die Straßen der Alfama so verwinkelt sind, als hätte ein unfähiger Stadtplaner sein verschwurbeltes Werk hinterlassen?
Der moderne Bauplan der City im Zentrum Lissabons ist die Hinterlassenschaft der größten europäischen Naturkatastrophe des 18. Jahrhunderts. Am 1. November 1755 um 09:40 Uhr bebte die Erde vor Lissabon. Meterbreite Spalten taten sich auf, Häuser brachen zusammen und überall loderte das Feuer. Die Menschen liefen, um sich zu retten, zum Hafen; aber trügerisch: Das Wasser war zurückgewichen. Kurz darauf kam die Tsunamiwelle mit unvorstellbarer Gewalt und riss alles und jeden mit sich. In der Talsohle zerstörte der gigantische Wasserschwall in mehreren Wellen Gebäude und Menschen und sog im nicht weniger brutalen Ablauf des Wassers alles in den Schlund des Atlantiks. Jahre später wurde die Stadt unter dem Premierminister Marques de Pombal wieder aufgebaut, die völlig zerstörte untere Stadt - jetzt quadratisch, praktisch, gut.
Die Kunde von der Katastrophe verbreitete sich in Windeseile in Europa und führte zu heftigen Diskussionen, in den Wirtshäusern und auf den Märkten, bei den Gelehrten, den Dichtern und Kirchenführern. Denn das Unheil überrollte das katholische Lissabon am Allerheiligentage, just während des Festgottesdienstes. Warum schickte der Herrgott eine neue Sintflut? Für welche Sünden Lissabons erfolgte die Bestrafung? Und auch noch während des Opfermahls?
Aber am gefestigten katholischen Glauben wurde noch viel, viel härter gerüttelt: Schließlich wurden die frommen Beter in der Kathedrale allesamt ins Meer gespült, während die Freier und ihre Liebchen in den Bordellen der Alfama in den sündigen Betten überlebten. Was war das für ein Herrgott, der solches Unrecht zuließ? Voltaire, Kant, Lessing und Goethe zum Beispiel beschäftigten diese Fragen.
Tief unten in der Erde aber dröhnt das Gelächter des Satans und wenn er nicht gestorben ist, plant er den nächsten Anschlag.
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